Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer von Flucht und Vertreibung am 9. November 2016

Veröffentlicht am 14.11.2016 in Allgemein

Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger haben uns in den vergangenen Tagen zu den Redebeiträgen von Karin Schaller und Joachim Wiegand angesprochen.

Beide Beiträge können Sie hier nochmals nachlesen.

Karin Schaller:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Der 9. November ist wahrhaft ein deutscher Schicksalstag - im Positiven wie im Negativen.

Am 9. November 1918 ging das zweite Kaiserreich zu Ende und Philipp Scheidemann rief in Berlin die Republik aus.

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer.

Aber auch dies ist deutsche Geschichte: am 9. November 1848 wurde der republikanische Paulskirchen Abgeordnete Robert Blum erschossen.

1923 putschte Hitler an diesem Tag in München und am 9. Nov.1938 in der Pogromnacht fielen deutsche Nazis über die Juden her.

Zum Gedenken an diese Nacht und all der darauf folgenden Verbrechen haben wir uns hier versammelt.

Keiner von uns hat diese Nacht selbst erlebt. Insofern sind wir alle von persönlicher Schuld frei.

Eine andere Frage die ich mir oft stelle ist: „Wie hätte ich mich verhalten, wäre ich dabei gewesen als die Synagogen brannten? Hätte ich zugeschaut - vielleicht angeekelt?  Hätte ich Kontakt zu jüdischen Familien gehalten? Hätte ich protestiert?

Wohl kaum. Zu allgegenwärtig waren schon die rohe Gewalt und die Angst. Ich glaube, Heldentum ist nicht meine Sache.

Die Gnade der späten Geburt (wenn ich diesen pathetischen Satz gebrauchen darf) befreit mich von dieser Verantwortung.

Aber bin ich heute befreit von Schuld? Wie verhalte ich mich heute, wenn Brandsätze in Flüchtlingsheime geworfen werden, wenn Ausländer belästigt, ermordet werden; wenn neue Nazigruppen durch die Straßen ziehen?

Was mich besonders betroffen macht, auch im Gedenken an die Nacht vom 9. November 1938 ist, dass neuer Antisemitismus in vielen Kreisen wieder hoffähig geworden ist, dass Neonazis und Deutschtümmler mit ihrem autoritären Weltbild: Rassismus und Antisemitismus, mit ihrem Hass auf alle, die nicht so sind wie sie, laut werden.

Zu denen vom Hass getriebene zähle ich auch die, die im Namen des Islam brandschatzen und morden.

Wenn wir aber den Hassenden mit Hass und Aggression begegnen, tun wir ihnen  nur einen Gefallen: wir begeben uns auf dieselbe Ebene. Hass gegen Hass: nach dieser Regel wollen wir nicht spielen!

Wir müssen mit unseren Waffen kämpfen. Wir dürfen nicht resignieren und gleichgültig werden. Das ist wahrhaftig nicht einfach bei dem, was gerade auf dieser Welt passiert.

Was wir tun können ist zu verhindern, dass diese Leute immer mehr Zulauf bekommen. Aufklärung und Vorbild sein sind unsere einzigen Waffen. Sie müssen überall eingesetzt werden: in Schulen, Vereinen, im Betrieb, in den Kirchen und überall wo Menschen erreichbar sind.

Dies ist eine Sisyphus Arbeit und mancher Stein, (bildlich gesprochen), den wir mühsam auf den Berg geschafft haben wird uns wieder vor die Füße fallen und wir müssen ihn wieder aufheben.

Trost und Antrieb finden wir bei dem französischen Schriftsteller und Philosophen Albert Camus, der einmal geschrieben hat: Ich erkenne in Sisyphus einen glücklichen Menschen.

0der in dem  Lied: Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun. Können das Gesicht der Welt verändern können nur zusammen das Leben bestehn. Gottes Segen soll sie begleiten, wenn sie ihre Wege gehn.

In diesem Sinne Danke für ihre Aufmerksamkeit.

 

Joachim Wiegand:

Lassen Sie mich, bevor wir nun in einer gemeinsamen Schweigeminute der Opfer von Flucht und Vertreibung -  von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gedenken, noch ein paar persönliche Worte an Sie richten:

Unser alljährliches Treffen an der Gedenktafel am Rathaus soll die Erinnerung wachhalten – die Erinnerung an die Auswirkung von Flucht, Vertreibung und Fremdenfeindlichkeit, wie sie noch vor gar nicht so langer Zeit auch von unserem Land, unserer Region und leider auch unserem Ort ausgegangen ist.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie einer meiner Vorredner an dieser Stelle eindrucksvoll und mitfühlend die Flucht- und Vertreibungsgeschichte eines Einhäuser Juden in der Zeit des Nationalsozialismus beschrieben hat. Als ich die Geschichte des Einhäuser Juden "Lösermann" vor 3 Jahre erstmals so detailliert gehört habe, war ich sehr betroffen, aber auch ganz sicher und ganz beruhigt, dass sich so etwas in unserem Land, unserer Region oder gar in unserem Ort so nicht mehr widerholen wird.

Heute - 3 Jahre später -  würde ich meine Hand dafür nicht mehr ins Feuer legen.

Während wir hier an Flucht und Vertreibung erinnern, wird das grundgesetzlich garantierte Asylrecht von Flüchtlingen und Vertriebenen in Frage gestellt - Stichwort "Obergrenze", und eine ganze Religionsgemeinschaft wie der Islam wird mit Terroristen in einen Topf geworfen und insgesamt kriminalisiert.

Fremdenhass, Gewalt gegen Fremde und Nationalismus feiern fröhlich Urstände. Sie sind auf einmal wieder salon - und leider auch politikfähig - in unserem Land -  in unserer Region und wahrscheinlich auch in unserem Ort.

Ganz sicher war und ist es keine einfache Aufgabe, innerhalb eines Jahres annähernd 1 Million Flüchtlinge aufzunehmen, ihre Asylansprüche fair zu beurteilen und die, die bleiben dürfen, erfolgreich zu integrieren. Das ist eine hohe Anforderung an eine Gesellschaft und auch an die Politik.  Es gibt kein Patentrezept, wie das gelingen kann und die Anforderung bleibt, solange die Fluchtursachen bleiben -  und es sieht nicht so, dass diese aktuell weltweit weniger werden.

Umso dringender braucht es dann aber Länder, Regionen und Gemeinden, die sich zutrauen das zu schaffen und die es immer wieder aufs Neue versuchen.


Wir alle wissen, was mit der Familie Lösermann passiert wäre, wenn es solche Länder nicht auch vor über 70 Jahren gegeben hätte.

Fremdenfeindlichkeit, Abschottung und Renationalisierung sind jedenfalls keine Alternative für Deutschland – menschlich nicht, historisch nicht. Und auch ökonomisch ist das der falsche Weg – davon bin ich zutiefst überzeugt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Lassen Sie uns für eine Minute schweigen in Erinnerung an die Opfer von Flucht und Vertreibung - Früher und heute!